Pflegende Angehörige: Zwischen Fürsorge und Dauerbelastung
01. September 2025
Silvias Tag beginnt lange vor dem ersten Kaffee – mit einer vorsichtigen Berührung an der Schulter ihres Mannes. Er hatte vor zwei Jahren einen Schlaganfall, seither ist vieles anders. Sie hilft ihm beim Waschen, Anziehen, macht Frühstück, reicht Medikamente, erinnert ihn daran, genügend zu trinken. Und obwohl sie ihn von Herzen gern pflegt, spürt sie: Die Kraft wird knapper. Ihre Hobbys – das wöchentliche Walken mit einer Freundin, die Chorproben am Dienstagabend – hat sie längst aufgegeben. Abends lässt sie sich erschöpft ins Bett fallen. Am nächsten Tag muss sie wieder bereit sein für ihren Mann. Sonst müsste er wohl in ein Heim.
Fürsorge kennt keine Pausentaste
So wie dem fiktiven Beispiel, Silvia, geht es vielen pflegenden Angehörigen in der Schweiz. Auf rund 600‘000 schätzt das Bundesamt für Gesundheit die Anzahl Menschen, die sich zu Hause um ihre Liebsten kümmern. Das sind rund 15 % der Bevölkerung. Ihre Arbeit entlastet Krankenhäuser und Pflegeheime, wo oft Personalmangel herrscht – und damit das Gesundheitssystem insgesamt. Die Pflege- und Betreuungsaufgaben für ein Familienmitglied oder den Lebenspartner oder die Lebenspartnerin bringen viele als zusätzliche Aufgabe im Alltag unter – neben dem Beruf, der Kinderbetreuung oder dem eigenen Älterwerden. Ein schwieriger Spagat, der auf Dauer Folgen hat: Rückenschmerzen, Schlafstörungen, chronischer Stress. Soziale Kontakte verkümmern, der Alltag dreht sich nur noch um die Pflege. Tag für Tag, manchmal über Jahre hinweg. Wer pflegt, lebt oft im Takt der Bedürfnisse eines anderen und vernachlässigt dabei nicht selten die eigenen.
Wenn die Spitex keine Option ist, leidet das Budget
Selbst wenn Entlastung theoretisch
möglich wäre – zum Beispiel durch eine örtliche Spitex: Viele Angehörige lehnen
sie ab. Aus Loyalität. Oder weil sie sich nicht vorstellen können, die Pflege in
fremde Hände zu geben. Dadurch isolieren
sie aber oft sich selbst. Ihre grosse Leistung wird weder anerkannt noch finanziell
entschädigt. Im Gegenteil: Sie verdienen manchmal
sogar weniger, wenn sie aufgrund ihres Engagements ihre Erwerbstätigkeit reduzieren
müssen. Durch kurzfristige, nicht planbare Einsätze fehlen sie bei der Arbeit.
Gleichzeitig stemmen sie Kosten für Unterstützungs- und Entlastungsangebote
oder Medikamente. Die öffentliche Hand bietet bislang nur wenig Unterstützung
an. Immerhin trat 2021 ein Bundesgesetz in Kraft, das einen Kurzurlaub von drei
bezahlten Tagen für Angehörige einführte sowie einen bezahlten Betreuungsurlaub
von bis zu 14 Wochen für Eltern von schwer kranken oder verunfallten Kindern.
Von der Unsichtbarkeit in die anerkannte Tätigkeit
Ebenfalls seit 2021 ist es möglich, sich von einer Spitex-Organisation anstellen und entlöhnen zu lassen. Voraussetzung ist, dass ein Arzt oder eine Ärztin die Pflegebedürftigkeit festgestellt hat und die angehörige Person zu Hause regelmässige Pflegearbeit leistet. Diese muss zudem innerhalb eines Jahres eine gewisse Qualifikation erwerben, falls sie diese nicht schon mitbringt – zum Beispiel einen Pflegehilfekurs oder eine gleichwertige Ausbildung. Die Anstellung bringt beiden Seiten Vorteile: Pflegende Angehörige erhalten für die geleistete Grundpflege einen Lohn, sind eingebettet in einem Fachteam und sozial abgesichert (siehe Kasten). Spitex-Betriebe profitieren ihrerseits von der oft langjährigen Pflege-Erfahrung, welche die Angehörigen mitbringen und damit intern zur Qualitätssteigerung beitragen.
Senevita Casa: Familiäre Pflege mit fachlicher Begleitung
Zu den
Spitex-Organisationen, bei denen eine solche Anstellung möglich ist, gehört die
Senevita Casa mit über zwanzig Standorten in der ganzen Schweiz. Interessierte
können sich an den Standort in ihrer Region wenden und sich kostenlos beraten
lassen. Kommt es zu einer Anstellung, erhalten sie einen Arbeitsvertrag. In
Zusammenarbeit mit einer Pflegefachperson entsteht ein individueller
Pflegeplan, der auf die Bedürfnisse der betreuten Person eingeht, begleitet von
wertvollen Hinweisen zur Durchführung und Dokumentation der Pflege. Die
tägliche Betreuung übernehmen die Angehörigen selbst – mit fachlicher
Rückendeckung: Eine Fachkraft steht ihnen persönlich zur Seite, berät bei
Fragen und unterstützt, wenn sich die Situation verändert. Die erbrachten
Pflegeleistungen werden mit der Krankenkasse abgerechnet, und die Angehörigen
erhalten dafür einen fairen Lohn. Sind sie selbst einmal krank oder brauchen
Ferien, können sie sich von ihren Teammitgliedern vertreten lassen – eine
grosse Erleichterung.
Die Entlastung wirkt befreiend
Dieses
Modell erlaubt, die Pflege zu Hause weiterzuführen und sich dennoch abgesichert
und eingebunden zu fühlen. Im professionellen Umfeld lässt sich die
Pflegebeziehung neu gestalten – mit mehr Selbstfürsorge, Austausch und
Sicherheit. Die Anstellung bringt nicht nur ein Einkommen, sondern auch
Wertschätzung: Was vorher als unbezahlte Selbstverständlichkeit galt, wird als
Arbeit anerkannt. Gleichzeitig entstehen dank Schulungen und Kursen neue
Perspektiven. Schliesslich bietet die Teamstruktur Raum für Kontakte mit
Menschen, die Ähnliches erleben. Das stärkt – und wirkt der Isolation entgegen.
Vorteile einer Spitex-Anstellung
Entlöhnung:
Die Pflegearbeit wird bezahlt, abhängig
von den Qualifikationen.
Soziale Absicherung:
Durch Unfall-, Kranken- und
AHV-Versicherung sowie Pensionskasse je nach Pensum.
Schulung und Unterstützung:
Zugang zu Pflegekursen und
Weiterbildungen.
Fachliche Begleitung:
Das Spitex-Team unterstützt mit Fachwissen, Beratung und springt
bei Krankheit oder Ferien ein.